Wo wirst du landen? Direkt auf der Wasseroberfläche des Sees? In Bolivien oder in Peru? Knapp mehr als die Hälfte der Seeoberfläche gehört zu Bolivien. Oder doch im Einzugsgebiet des Sees? Dass du das Einzugsgebiet des Titicacasees verfehlen wirst, ist bei dessen Gröβe von fast 60.000 km² beinahe unmöglich. Im Vergleich dazu beträgt die Fläche von Österreich in etwa 84.000 km². Die reine Fläche des Sees kommt auf ein Siebentel des ganzen Einzugsgebietes und ist in etwa 15 mal so groβ wie der Bodensee. 15 mal! Die Chancen auf ein direktes Bad im See stehen also nicht schlecht.
Platsch! Du bist gelandet. Mitten im höchstgelegenen kommerziell schiffbaren See der Welt auf über 3800 m Meereshöhe! Du siehst dich um, drehst dich im Kreis. Du erkennst viele andere Wassertropfen, die dich freundlich angrinsen. Du beschlieβt, sie später nach ihrer Reise und ihren Erlebnissen zu fragen. Erstmal möchtest du die Umgebung weiter erkunden.
Links von dir erkennst du einen Fisch. Du näherst dich ihm und fragst ihn schüchtern, wer er denn sei. Er erzählt dir, dass er Charles hieβe und eine Forelle sei und hier im See viele Freunde seiner Gattung habe. Seine früheren Verwandten leben allerdings in Kanada, einem fernen Land, das er gerne mal besuchen möchte. Charles stellt dich seinen Freunden vor. Du erkennst sofort, dass unter ihnen auch andere Fische sind – Welse! Du lässt Charles allein und gesellst dich zu einem zufrieden dreinblickenden Wels. Von ihm erfährst du, dass alle seine Vorfahren hier im Titicacasee lebten und er gar nicht wisse, wo er sonst leben solle. Nach einer Weile in der gesellschaftlichen Umgebung des bunten Fischschwarms ziehst du weiter, vorbei an einer für dich unbekannten Unterwasserwelt.
Es kommt dir ein aufgeregt plappernder Wassertropfen entgegen. Seinem Redeschwall kannst du entnehmen, dass er bereits eine weite Reise hinter sich hat, irgendwo im Hinterland gelandet ist, grasende Lamas und Alpakas gesehen hat, Bauern bei der Arbeit beobachtet hat, und anschlieβend für einige Zeit das Hochland sozusagen von innen begutachtet hat. Er ist in den Boden infiltriert. Und seiner Erzählung nach zu schlieβen vermutlich als Zwischenabfluss in einen Fluss gelangt. Du malst dir aus, wie schön die Reise im Fluss gewesen sein muss - umgeben von einzigartiger Altiplanolandschaft.
Dein neuer Freund ist danach im gröβeren und tieferen Teil des Sees gelandet – dem Lago Grande mit einer durchschnittlichen Tiefe von 125 m. Das ist fast so tief wie der Stephansdom in Wien hoch ist! Du malst dir aus, wie es wohl sein würde, so weit unten in der Tiefe. Du fragst dich, welche Lebewesen dort wohl wohnen würden und ob du da unten was sehen könntest. Du bist ganz aufgeregt und möchtest mehr von der Reise deines Artgenossen wissen. Er berichtet, wie er durch die Straβe von Tiquina in den kleineren Teil des Sees gereist und hier schlieβlich auf dich getroffen ist. Du fragst ihn ob er wisse, wo genau ihr euch befinden würdet. "Klar!", antwortet er verblüfft, "im Lago Menor, kurz vor dem Fluss Río Desaguadero."
Du denkst darüber nach, ob es dir wohl gefallen hätte, auf der Landoberfläche zu landen und eine weite Reise bis in den See anzutreten – Ja, ganz bestimmt! In etwa die Hälfte der Wassertropfen im Titicacasee fallen wie du direkt auf den See, die andere Hälfte wird, so wie dein Freund, über Zuflüsse in den See eingetragen. Treffpunkt für alle Wassertropfen im Einzugsgebiet ist dann genau hier – im Titicacasee! Du freust dich, so viele Freunde um dich zu haben! Du fragst dich, ob da wohl das ganze Jahr über gleich viele Wassertropfen im See seien und beschlieβt, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Du näherst dich dem Ufer und hoffst auf menschliche Hilfe bei dieser Frage. Am Weg dorthin kommst du an vielen Fischerbooten vorbei, an Fischen, Wasserpflanzen und anderem Getümmel. Von weitem kannst du eine Gruppe junger Menschen, vermutlich Studenten, erkennen, die aufmerksam den Worten eines Mannes lauschen, der dabei immer wieder auf den See in deine Richtung deutet. Du witterst deine Chance mehr über das spannende Gewässer zu erfahren und steuerst direkt auf die Gruppe zu.
Du hattest Recht! Der Mann spricht gerade über den Wasserhaushalt des Sees. "Der Wasserspiegel schwankt über das Jahr gesehen im Durchschnitt ca. einen Meter. In manchen Jahren kann er aber auch um bis zu 10 Meter schwanken. Das hängt stark mit dem Wetterphänomen El Niño zusammen". Oh wow! Bis zu zehn Meter! Selbst ein Meter gesehen über die ganze Seeoberfläche ist eine Meeeeenge Wasser. Du versuchst dir vorzustellen, wie viele Wassertropfen in dieses Volumen wohl hineinpassen könnten. Unvorstellbar viele! Plötzlich fühlst du dich ganz klein im Angesicht des groβen Sees.
Du hoffst, dass du noch mehr erfahren kannst und beschlieβt eine Zeitlang hier zu verweilen. "Mehr als 90 Prozent des Wassers aus dem See gehen über die Verdunstung verloren", hörst du den Mann erklären. Oh weia, dann geht es ja wahrscheinlich auf direktem Weg wieder hinauf zu den Wolken. Du beschlieβt auf die verbleibenden 10 Prozent zu hoffen, damit du deine Reise auf der Erdoberfläche noch fortsetzen kannst. "Was passiert mit dem verbleibenden Anteil an Wasser?", fragt da eine junge Dame. Ja, das möchtest du auch gern wissen! "Die münden in den Río Desaguadero und flieβen weiter in den Poopó-See. In Regenzeiten mit viel Niederschlag geht die Reise für einen Teil des Wassers weiter gegen Süden Richtung der Salzwüsten im Südwesten Boliviens", legt der Professor dar. "Die Regenzeit bringt in etwa 80 Prozent des Jahresniederschlags im Altiplano. Das sind die Monate Dezember bis Februar, also der Sommer hier auf der Südhalbkugel." Du bist ganz andächtig angesichts der vielen neuen Informationen, die du gerade erhalten hast. Du überlegst, was denn gerade für ein Monat sei. Du grübelst, rechnest nach, denkst an verschiedene wahrgenommene Gespräche und kommst schlieβlich zu dem Schluss, dass es März sein muss, also kurz nach der Hauptregenzeit. Das bedeutet, dass der Wasserspiegel des Sees wohl eher hoch sein muss und die Chancen für eine Weiterreise in den Poopó-See nicht so schlecht stehen. Was für eine Freude! Dein Abenteuer hier in Bolivien kann also noch weitergehen! Es gibt noch so viel zu entdecken.
Am Rande deiner Euphorie über die neuen Möglichkeiten nimmst du noch wahr, wie der Professor erklärt, dass der See sehr wichtig ist für das Klima und somit für die Landwirtschaft und den Anbau von Kartoffeln, Mais, Gerste, Oca und Quinoa rund um den See. Er wirkt somit wie ein Klimaregulator. Wie es wohl ohne dem See hier aussehen würde? Eine karge Landschaft? Du freust dich noch mehr an der schönen Umgebung und darüber, dass es ist wie es ist.
Wie du dich langsam von der Studentengruppe entfernst um dich auf den Weg Richtung Río Desaguadero zu machen, verklingen die Stimmen mitten in der Erklärung, dass der See sehr wahrscheinlich tektonisch, also durch Plattenbewegungen und daraus resultierenden Hebungen und Senkungen, entstanden sei. Ein Mädchen erzählt noch, dass sie von einem Touristenführer aufgeschnappt habe dass Fossilien gefunden worden seien, die auf Meerwasser hindeuten würden. Und schon bist du zu weit entfernt um weitere Worte verstehen zu können. Der Wind braust dir leise in den Ohren und du entfernst dich weiter vom Ufer.
Du freust dich auf die kommenden Abenteuer im Río Desaguadero und genieβt noch die untergehende Sonne. Was die kommenden Tage wohl bringen werden?